Die Zeichen an der Wand

Einen ganz eigenen Blick auf die Stadt hat Michael Zachcial. Unter dem Titel „Narrenhand“ stellt er in der Zentralbibliothek Graffiti aus und zeichnet ein Bild von Bremen, das nicht leicht zu entschlüsseln ist.

„Kunst ist Kommunikation“, sagt Michael Zachcial. Er steht unter einem grünweißen Banner am Eingang der Zentralbibliothek. Antirassistische Werder-Fans von Racaille Verte haben es gestaltet. Die sogenannten Ultras sorgen während der Spiele für Stimmung, begleiten ihren Verein so oft es geht und fallen im Stadion mit kreativen Aktionen auf. „Auch Fankultur ist für mich künstlerische Performance“, sagt Zachcial.

Seit vergangenem Jahr sammelt der Künstler und Liedermacher aus der Neustadt Zeichen, die in der Bremer Öffentlichkeit nicht oder nur wenig wahrgenommen werden. Mit der Kamera zog er durch die Hansestadt, fotografierte Straßenecken, Unterführungen, Haltestellen. Gerade dort sei er auf Zeichen gestoßen, die er zwar ständig angucke, aber nicht verstehe: Graffiti.

Verschlüsselte Zeichen an der Wand – diese Geschichte taucht schon im Alten Testament auf, als Prophet Daniel für König Belsazar unheimliche Schriftzeichen deutete und den Untergang Babylons vorhersagte: „Gott hat die Tage deiner Herrschaft gezählt und ihr ein Ende gemacht. Er hat dich gewogen und für zu leicht befunden.“ Diese Szene taucht bei Michael Zachcial immer wieder auf, als „Gastmahl des Belsazar“ von Rembrandt und in Liedtexten. „Unser Reich befindet sich auch gerade in einer schweren Krise“, sagt Zachcial. „Auch wir haben Zeichen an der Wand, die wir nicht deuten können.“ Auf Stellwänden hat er Fotos angebracht, die mit Strichcodes versehene Stromkästen zeigen, und Amélie Poulains, die sich für die „fabelhafte Welt des Widerstands“ einsetzen. „Jedes Schreiben an die Wand wird als Akt des Ungehorsams bewertet“, sagt Zachcial. „Als Kunst, die ständig die Machtfrage stellt – selbst in ihrer dilettantischsten Form.“

„Ihr seid Narren“, hat jemand auf die Wand eines Tunnels gesprüht. „Narrenhände beschmieren Tisch und Wände“, fällt Michael Zachcial dazu ein. „Aber Kinder und Narren sagen auch die Wahrheit.“ Also könne man daraus schlussfolgern, dass die, die Wände beschmieren, Wahrheiten verbreiten. In Schulen hat sich der Liedermacher mit Kindern unterhalten, Gedichte und Zitate aufgeschnappt. Den Reim einer Achtjährigen brachte er mit einem Foto in Verbindung: Es zeigt einen Kaugummiautomaten, der mit einer Figur verziert wurde, die sich die Augen zuhält. Nun steht darunter: „Bin nur ein armer Kater, habe keinen Vater, habe keine Mutter, gib mir etwas Futter.“ Immer wieder neu fügt Zachcial Texte und Bilder zusammen. Seine Suche nach Zeichen sei mit der Ausstellung in der Zentralbibliothek noch lange nicht vorbei: „Ich sammle weiter.“ Bekritzelte Schultische, Sticker auf dem Schild der Staatsanwaltschaft, Namen in Baumrinde oder auch nur die Worte „Ich war hier“ – all das seien

Zeichen, Kommunikation zwischen Jugendlichen und Formen von Aufbegehren. „Narrenhand“ ist verlängert worden und nun bis zum 14. April in der Zentralbibliothek zu sehen. Näheres unter www.narrenhand.de.

Alena Hecker, Weser-Kurier, 19. März 2009